Auf der Intensivstation 1D der Uniklinik Köln gibt es seit letztem Jahr ein multiprofessionelles Projekt zur Delir-Awareness und -Prophylaxe. Das frühzeitige Erkennen und die Prävention eines Delirs sind eine Herausforderung für das gesamte Behandlungsteam. Daniel Marqueses, Fachliche Leitung Intensivpflege, koordiniert das Projekt und gibt anlässlich des heutigen World Delirium Awareness Days Einblicke.
Warum wurde das Delir-Projekt ins Leben gerufen?
Um das Bewusstsein für Delir zu schärfen und die Prävention zu verbessern. Viele engagierte Kolleginnen und Kollegen setzen sich im Alltag bereits für das Thema ein. Auf der 1D kam der Impuls ebenfalls von einer Kollegin, die sich dem Thema vertieft gewidmet hatte – also aus dem Team heraus. Im Rahmen des Laufbahnmodells Pflege konnte ich dann mit meinen Ressourcen unterstützen.
Können Sie kurz erklären, was ein Delir ist und wer besonders betroffen ist?
Ein Delir ist ein plötzlich auftretender Verwirrtheitszustand, bei dem Menschen Schwierigkeiten haben, klar zu denken, sich zu konzentrieren oder ihre Umgebung richtig wahrzunehmen. Es kann durch viele Ursachen ausgelöst werden, zum Beispiel durch Infektionen oder Medikamente. Betroffene wirken oft unruhig oder sehr schläfrig, sind desorientiert und können Halluzinationen haben. Häufig schwanken diese Merkmale in ihrer Ausprägung im Tagesverlauf. Es ist meist reversibel. Oft entwickeln Menschen über 65, die medizinisch oder chirurgisch behandelt werden, ein Delir. Das schwankt je nach Krankenhausabteilung und Patientengruppe. Studienergebnisse legen aber nahe, dass 75 Prozent der Patienten auf Intensivstationen betroffen sind!
Wie soll das Bewusstsein zum Thema Delir geschärft werden und was konkret wurde im Rahmen des Projekts umgesetzt?
Es gibt ein Kernteam, in dem wir uns regelmäßig austauschen und Ideen besprechen. Die Oberärztinnen bringen dabei die medizinischen Aspekte ein. Die Pflegeteamleitung übernimmt beispielsweise die Materialbestellungen und Organisation von Fortbildungen im Dienstplan. Unsere pflegerische Kollegin ist in der Patientenversorgung tätig und hilft mir bei der Koordination und weiteren anfallenden Tätigkeiten und unsere Pflegedienstleitung gibt uns die nötige „Rückendeckung“. Besonders freut uns, dass wir bald auch Vertreter der Apotheke mit an Bord haben.
Ein Delir bleibt oft unbemerkt, da viele betroffene Patienten eher ruhig und zurückgezogen sind. Das kann leicht mit normalem Schlaf oder Erschöpfung verwechselt werden. Daher liegt unser Fokus derzeit auf einem regelmäßigen Screening mit validierten Instrumenten – eine Praxis, die erlernt und geübt werden muss. Unser Schulungskonzept kombiniert theoretische Kurzfortbildungen, praktische Arbeitshilfen wie Pocketcards und das sogenannte „Spot-Checking“. Dabei besuchen meine Kollegin und ich die Station und unterstützen die Mitarbeitenden gezielt im Umgang mit den Instrumenten unter realen Alltagsbedingungen. Zusätzlich soll zukünftig das bereits vorhandene digitale Clinical Decision Support System VAR-Healthcare genutzt werden.
Es gibt durch das Projekt auf der Station jetzt Lernposter, kontrastreiche Uhren und Kalender, die auch bei eingeschränkter Sehfähigkeit gut ablesbar sind, und Hilfsmittel zur Förderung des Tag-Nacht-Rhythmus, wie Schlafmasken und Ohrstöpsel. Außerdem gibt es Beschäftigungsmaterial, Leuchten zur Schaffung gezielter Lichtstimmungen und Aufklärungsflyer für Angehörige. Bald werden wir in den Zimmern auch sogenannte „Get-to-know-me“-Boards installieren. Auf denen können persönliche Ziele und Wünsche der Patienten, Fotos und weitere Informationen festgehalten werden. Das ist besonders wichtig, um auch bei Langzeitverläufen nie den Menschen aus den Augen zu verlieren.
Warum haben die Pflegenden beim Thema Delir eine Schlüsselrolle?
Jede Berufsgruppe trägt im Rahmen ihrer Kompetenzen wesentlich zum Behandlungserfolg bei. Pflegende haben jedoch den engsten und kontinuierlichsten Kontakt zu den Patienten und übernehmen eine Schlüsselrolle als Fürsprecher. Sie sind die Hauptansprechpartner für andere Gesundheitsberufe. Zukünftig sollte besonders das Potenzial an den Schnittstellen besser genutzt werden. Es gibt bereits Konzepte, bei denen den Patienten über den gesamten Behandlungspfad hinweg eine Pflegefachperson als kontinuierlicher Ansprechpartner zur Seite steht. Der Ausbau solcher erweiterten pflegerischen Rollen ist aus meiner Sicht auch gerade bei der Delir-Prophylaxe und -Behandlung dringend erforderlich.
Woran kann man ein Delir erkennen? Können Sie von ein-zwei praktischen Situationen aus dem Arbeitsalltag berichten?
Typisch ist eine plötzlich auftretende Störung der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins, die innerhalb von Stunden bis Tagen entsteht. Sie kann schwanken und zeigt sich durch kognitive Beeinträchtigungen wie Gedächtnis-, Sprach- oder Wahrnehmungsstörungen. Diese Symptome sind nicht durch eine andere bekannte neurokognitive Erkrankung erklärbar. Vor Kurzem habe ich einen Patienten gefragt, ob er in letzter Zeit Dinge oder Personen gesehen habe, die offensichtlich nicht in das Umfeld gehören. Er sagte mir „Hier noch nicht, aber im letzten Krankenhaus haben sich die Zeiger der Uhr sehr schnell im Kreis gedreht.“ Ein Beispiel für eine Trugwahrnehmung.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Die wichtigste Maßnahme ist die Prävention und die Behandlung der zugrunde liegenden Ursachen, soweit das möglich ist. Tritt ein Delir auf, empfiehlt sich ein individuell abgestimmtes Maßnahmenbündel. Es umfasst die Re-Orientierung zum Beispiel durch klare Zeitangaben und vertraute Gegenstände, die Förderung des Tag-Nacht-Rhythmus, die Mobilisation und die Einbeziehung der Angehörigen.
Es gibt keine „Wunderpille“. Medikamente können unterstützend wirken, besonders wenn sie zur Behandlung der zugrunde liegenden Ursachen eingesetzt werden, wie etwa Infusionen bei Flüssigkeitsmangel. In einigen Fällen kann es auch notwendig sein, beruhigende Medikamente als „Notbremse“ einzusetzen, vor allem wenn der Patient sich oder andere gefährdet. Die Angehörigen spielen eine zentrale Rolle im Verlauf der Behandlung. Studien belegen, dass re-orientierende Sätze gesprochen von Angehörigen eine positive Wirkung auf den Verlauf haben können.
Können Sie ein-zwei praktische Beispiele aus dem Arbeitsalltag nennen, wie die Maßnahmen wirken?
Die meisten Maßnahmen sind unkompliziert in den Pflegeprozess zu integrieren. Es kostet zum Beispiel keine zusätzliche Zeit, die eigene Kommunikation zu ändern. Statt das Erleben einer Trugwahrnehmung zu negieren, kann man sagen: „Ich möchte Ihnen versichern, dass Sie in Sicherheit sind und dass das, was Sie gesehen haben, nicht real ist – auch wenn es sich so anfühlen mag.“ Außerdem habe ich bei meinen letzten Besuchen bemerkt, dass Patienten konkret Bezug auf die neuen Kalender und Uhren genommen haben, die sie als hilfreich empfunden haben.
Was hat sich seit dem Beginn des Projekts für die Mitarbeitenden, Angehörigen und Patienten verändert oder verbessert?
Der Fokus liegt momentan auf dem systematischen Screening. Mittlerweile werden zusätzlich zum pflegerischen Basis-Assessment etwa 50 Prozent der Patienten mindestens einmal täglich mit einem validierten Instrument auf Delir eingeschätzt. Hier gibt es noch Verbesserungspotenzial. Deshalb planen wir zunächst eine Zwischenevaluation mit den Mitarbeitenden. Auf Basis der Ergebnisse werden wir gezielt Anpassungen vornehmen. Veränderungsprozesse sind wie Lagerfeuer: sie müssen immer wieder angeheizt werden, damit sie nicht erlöschen.